Fischer, Carl


Carl Fischer gilt als erster Arbeiter-Autobiograf aus Eisleben. 1903 und 1904 veröffentlichte er zwei Bücher, ausgestattet mit Zeichnungen des dem Worpsweder Künstlerkreis angehörenden Heinrich Vogeler.


Nachstehender Text zum Leben und Wirken von Carl Fischer ist die Wiedergabe eines Beitrages von Bodo Nickel in den Mansfelder Heimatblättern - Kreis Eisleben; 1986, S. 44. Er schildert eindrucksvoll das Leben eines einfachen Mannes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für uns interessant ist der im Text erwähnte Eisenbahnbau im Mansfelder Land an der Strecke Halle-Kassel. Den "Durchstich" an der Hüneburg besuchen wir in unserer Tour  "Eine Wanderung zu den Otto-Schächten".

Carl Fischer * 6. Juni 1841 † 22. Juli 1906
Foto: Bodo Nickel / Reproduktion: Foto-Thun

Bodo Nickel

Ein Arbeiter erzählt sein Leben

Zum 80. Todestag des ersten Arbeiter-Autobiographen Carl Fischer aus Eisleben

Im Frühjahr 1902 stellte sich in Berlin bei einem damals bekannten Herausgeber literarischer Arbeiten ein schon durch sein Äußeres als Arbeiter zu erkennender, etwa sechzigjähriger Mann vor, er heiße Carl Fischer, komme aus Wansleben im Mansfelder Seekreis und habe etwa 800 handgeschriebene Seiten mitgebracht. Er bat den Literaten dringend, das Ganze zu lesen und einem Verleger zum Druck zu .übergeben. Da er Invalide ohne Rentenanspruch sei, brauche er Geld zum Leben. Auf dem Papier habe er seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben.

Der Herausgeber erkannte das Außergewöhnliche und Epochemachende dieser Arbeit, kürzte und verbesserte einiges, schrieb ein Vorwort und sorgte dafür, dafj der angesehene bürgerliche Jenaer Verlag Eugen Dietrichs 1903 und 1904 zwei Bücher herausgab, gut ausgestattet mit Zeichnungen des dem Worpsweder Künstlerkreis angehörenden Heinrich Vogeler. Damit war die erste deutsche Arbeiterselbstdarstellung erschienen, nach kurzer Zeit im In- und Ausland stark beachtet. Zeitungen und Zeitschriften druckten Teile ab und besprachen die Bücher.

Wer war jener Verfasser der „Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters", der sich aus der Masse der namenlosen Proletarier so plötzlich heraushob, bekannt und berühmt wurde?

Carl Fischer wurde vor 145 Jahren, am 6. Juni 1841, in Grünberg/Schlesien geboren und starb vor 80 Jahren, am 22. Juli 1906, in Halle. Sein Vater, er hieß ebenfalls Carl Fischer, stammte aus einer Eisleber Bergarbeiterfamilie in der Kreisfelder Gasse, hatte bei einem Meister in der Annengasse das Bäckerhandwerk gelernt und nach einer Wanderzeit zweimal vergeblich versucht, sich als Meister auf die Dauer seßhaft zu machen. Schließlich bemühte er sich erneut, und zwar in seiner Vaterstadt. Er brachte seine Frau und fünf Kinder mit Eisleben, hier kamen später noch drei dazu. Auf dem damaligen Breiten Weg, heute Straße der OdF, eröffnete er eine Bäckerei, die er aber nur vier Jahre halten konnte. Danach war er bis zu seinem Tode Gelegenheitsarbeiter, Bergmann, schließlich Häusermakler. Schon in früher Jugend mußte unser Carl mitverdienen und abends mit einem großen Korb Brezeln von Gasthof zu Gasthof ziehen. Als er nach Eisleben kam, war er zwölf Jahre. Bis zur Konfirmation besuchte er die Schule neben der Annenkirche. In seinen Büchern beschreibt er später in der ihm eigenen Art seine Kindheitserinnerungen, auch die Fahrt nach Eisleben und die neue Umgebung, den Pastor, den Lehrer sowie die ewigen Streitereien im Elternhaus, die ihn stark belasteten.

Am liebsten hatte er nach der Schulentlassung Gärtner gelernt, doch konnte oder wollte ihm der Vater dafür nicht den notwendigen Taler Lehrgeld geben. Zum Bäckerhandwerk zog es ihn gar nicht, denn, so schreibt er: „Ich hatte von Jugend auf und so lange ich denken konnte, nichts anderes gesehen von unserer ganzen Bäckerei, daß sie uns etwas anderes eingebracht hätte als Armut und Elend und alle Tage Spektakel, und aus den Schulden waren wir nicht rausgekommen, und sollte ich da wohl Lust haben zu diesem Geschäft." So war er froh, in Dederstedt als Bursche eine Stelle bei einem Onkel zu erhalten, der eine Wagenfettfabrik besaß. Für einen Lohn von monatlich acht Talern hatte er, wöchentlich im Wechsel von Tag- und Nachtschicht, täglich zwölf Stunden schwer zu arbeiten. Anschaulich ließ er sich später über die unwürdigen Bedingungen aus. Vor allem litt er unter den Schikanen des Vorarbeiters, die ihn mehr bedrückten als die harte Arbeit. Doch zeichneten ihn schon damals Wahrheitsliebe, Stolz und Gerechtigkeitssinn aus. Schließlich erlöste die Mutter den Jungen und holte ihn nach Hause zurück. Dederstedt blieb ihm nicht in guter Erinnerung. Jetzt bedrängte ihn der Vater erneut, Bäcker zu lernen, und das tat er widerwillig. Über seine Lehrzeit meint er: „Mein Vater war ohne Zweifel einer der tüchtigsten Bäcker, das habe ich von allen Seiten bestätigen hören, aber er war auch einer der untüchtigsten Lehrmeister, und das kann ich ganz alleine bestätigen." Es ist tatsächlich auch unverständlich, daß ihm der Vater keinerlei Unterweisungen bei der Arbeit gab, jeden Handgriff mußte sich der Lehrling absehen. Fischer setzt sich in der Lebensbeschreibung auch sonst kritisch mit dem autoritären Regime des Vaters in der Familie auseinander, dabei bittet er den Leser ständig, ihn wegen seiner harten Worte nicht zu verurteilen. Immer betont er, es sei die reine Wahrheit. Die Mutter kommt wesentlich besser weg, nicht zuletzt, weil er Mitleid mit ihr empfand, denn auch sie wurde vom Vater oft verprügelt.

Im Frühjahr 1859 legte er die Gesellenprüfung ab: „Das Bäckergesellenstück bestand damals in Eisleben darin, daß man eine Nacht beim Obermeister arbeiten mußte, und die Prüfung fand im Laufe des Vormittags auf dem Rathause statt und wurde abgehalten von den beiden Obermeistern der Bäckerinnung in Gegenwart des Bürgermeisters."

Obwohl Fischer im ganzen wenig Ahnung von der Bäckerei besaß, fiel er nicht durch, freilich prüften ihn zwei Vettern. Kurios erscheinen uns die Fragen, die er zu beantworten hatte: „Welches ist das beste Holz zum Heizen?" „Woran erkennst du, wenn ein Brot ausgebacken ist?" Mit der Freisprechung endete die schreckliche Lehrzeit. Kein Wunder, daß er kein Bäcker blieb.

Wie es damals üblich war, begab er sich auf Wanderschaft und ließ sich u. a. zum Straßen- und Eisenbahnbau anwerben. In dieser Periode der aufstrebenden Industrialisierung benötigte man dort große Menschenmassen. Als Erdarbeiter zog er nunmehr zehn Jahre in Deutschland umher; beim Eisenbahnbau in unserer Heimat war er auch dabei. Von 1865 bis 1868 wurde die schwierige Strecke von Eisleben nach Sangerhausen bewältigt, mit dem Tunnelbau bei Blankenheim.

Auch der Durchstich bei der Hüneburg war nicht leicht, weil ungeheure Erdmassen bewegt werden mußten. „Das war ein Stück Arbeit, das will ich jedem versichern", meinte Fischer. Und weiterhin in Anlehnung an das bekannte Weihnachtslied: „O Hüneburg, o Hüneburg, wie brummten mir die Knochen." Auf vielen Seiten schildert er das Gewimmel auf solchen Großbaustellen. Hunderte von Arbeitern wühlten sich förmlich in die Erde, hackten den steinigen Boden los, schaufelten ihn auf Karren. Zwei Mann fuhren eine, der eine zog mit einem Strick, der andere steuerte und drückte, dabei stets beachtend, daß das Rad nicht von dem Bretterweg abglitt. Gearbeitet wurde im Akkordsystem, bei Wind und Wetter. Die Schilderung des Eisenbahnbaus ist wohl die eindrucksvollste des ganzen Werkes, weil hier die Schufterei der aus allen Landschaften stammenden Männer - entlaufene Landarbeiter, ehemalige Handwerker, gescheiterte Existenzen - für einen geringen Lohn unter denkbar schlechten Bedingungen beschrieben wird. Dabei spricht er von den gerissenen Methoden der Unternehmer und deren Beauftragten, ihrer Kumpanei mit Wirts- und Kaufleuten, die alle die Unorganisierten in jeder Weise prellten, den Aufgaben der Schacht- und Baggermeister, den rohen Sitten, dem fehlenden Arbeitsschutz und der Wirkung des Alkohols. Hier erfährt der Leser wie wohl kaum anderswo so überzeugend, was extensive Ausbeutung heißt.

Die von ihren Familien getrennt lebenden Arbeiter hausten in verlausten und verdreckten Schlafstellen und mußten dafür den „Budikern" noch Wucherpreise zahlen. Oft gaben diese den Arbeitern Kredite und betrogen sie mit erhöhten Zinsen. Lebensmittel und Getränke verkauften sie mit Aufschlag. Manche Arbeiter halfen sich, indem sie an den Baustellen Bretterbuden zimmerten, um den Halsabschneidern zu entgehen. Auch Fischer verließ mehrmals infolge hoher Schulden heimlich Baustellen und Unterkünfte, zog dann bettelnd durch das Land, um irgendwo anders das gleiche Elend neu zu erleiden.

1869 ließ er sich in Osnabrück nieder und arbeitete 15 Jahre in einem Stahlwerk. Da sich ein Meister wegen eines Vorschlags Fischers, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, brüskiert fühlte, wurde er von diesem beim Direktor angeschwärzt und prompt gefeuert. In einer Eisenbahnwerkstatt fand er schließlich wieder Arbeit und blieb dort nochmals 15 Jahre, mußte aber auch hier Willkür und Ungerechtigkeiten ertragen. Offensichtlich fiel es dem Individualisten Fischer schwer, sich anderen Menschen anzuschließen. Er blieb unverheiratet, fand auch nie den Weg zur Gewerkschaft oder zur Sozialdemokratischen Partei.

Wodurch ist die große Wirkung seiner Bücher zu erklären? Da ist das Eigenartige seiner Ausdrucksweise anzuführen. Er erzählt fast unaufhörlich in einem Fluß, völlig unkonventionell. Die Kapiteleinteilung stammt vom Herausgeber. Fischers Sprache ist bildhaft, überzeugend, manchmal naiv, schwerfällig, immer gefühlsbetont. Alles, was ihm wichtig erscheint, malt er breit aus, doch nie stellt er seine Person vordergründig heraus, es geht ihm um das Allgemeine, jedes Agitieren vermeidend und immer unterstreichend, alles sei wahr, er habe es so erlebt. Er will Chronist sein. So verdient er wohl, als Naturtalent bezeichnet zu werden. Niemand hat ihn zum Schreiben aufgefordert, nirgendwo hat er es gelernt. Als literarisches Vorbild kennt er nur die Bibel. Im Mittelpunkt stehen die Arbeit auf den Bau-stellen, in der Fabrik, die Werkzeuge, die Gefühle, Gedanken und die Umstände, unter denen Arbeiter Geld verdienen müssen; nie schreibt er als Leidender oder als Pessimist. Meistens ist er gelassen, doch kann er, wenn es nötig ist, sehr zornig sein. Trotz der Mühen sucht er stets das Schöne und Erhebende. Weil er weder Sozialdemokrat noch Gewerkschaftler war, brachte ihn der bürgerliche Verlag groß heraus. Hier sollte der Mann aus dem Volke sprechen, doch die Arbeiter sahen in Fischer den Mann aus ihrer Klasse. Seine Bücher sind Ausdruck des erwachenden proletarischen Selbstbewußtseins. Mit ihm beginnt die Autobiographie von Arbeitern als neue literarische Kategorie, später von vielen fortgesetzt bis in die Gegenwart. Sie steht in unserer Gesellschaft heute in hohem Kurs.

Im Haushalt der Frau seines verstorbenen Bruders bei Dessau und danach in Wansleben fand der arbeitsunfähig gewordene Wander- und Gelegenheitsarbeiter 1900 eine Bleibe und begann, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Nachdem er fertig war, drängten ihn die Verwandten, das Manuskript drucken zu lassen, damit er mit dem Geld mehr zum Haushalt beitragen könne. Erst wehrte er sich dagegen, dann fuhr er doch nach Berlin. Nur kurze Zeit lebte Fischer sorgenfrei. 1905 mußte er sich in Halle einer Operation unterziehen: danach ließen die Kräfte weiter nach. Die letzten Lebensmonate verbrachte er in einem Pflegeheim. Als er 1906 auf dem Halleschen Friedhof von Halloren zur letzten Ruhe gebracht wurde, folgten dem außergewöhnlichen Manne nur wenige.

Um die Erinnerung an Fischer wachzuhalten, nannte man in den zwanziger Jahren in Eisleben eine Straße nach ihm, und Waldemar Mühlner, Rektor und Heimatforscher, gab vor etwa 60 Jahren einen Nachdruck der Kapitel heraus, in denen Fischer sein Herkommen, seine Jugend und Lehrzeit in Eisleben sowie die Episode in Dederstedt beschreibt. Auch die Zeitschrift „Unser Mansfelder Land" druckte in den Heften 11 und 12 im Jahre 1957 zwei Kapitel ab. Vor allem in den letzten Jahren wurde Fischers Werk von Literaturhistorikern der DDR gebührend gewürdigt und ihm eine Pionierrolle in der Arbeiter-Autobiographie zugeschrieben. So ist nur zu hoffen, daß in absehbarer Zeit die Hoffnung vieler Heimatfreunde erfüllt wird und zumindest einige Teile aus den „Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters" erscheinen, denn Fischer hat uns auch heute noch viel zu sagen. Im übrigen gilt, was Lessing sagt, Schriftsteller wollen weniger gelobt, dafür aber mehr gelesen werden.

Literatur:

  • Carl Fischer: „Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters", Verlag Eugen Dietrichs, Jena 1903/04
  • Carl Fischer: „In einem Handwerkerhause um 1850", Herausgeber Waldemar Mühlner, Heimat-Verlag für Schule und Haus, Halle o. J.
  • Geschichte der deutschen Literatur vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917, Volk und Wissen Berlin 1974
  • Ursula Münchow: „Arbeiterbewegung und Literatur 1860 bis 1914", Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1981
  • Waldemar Mühlner: „Carl Fischer" in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Magdeburg 1928, S. 576-595
  • Mansfelder Heimatkalender 21/42, Verlag Ernst Schneider, Eisleben
  • „Unser Mansfelder Land", Eisleben 1957, Hefte 11 und 12

 

 

(Letzte Aktualisierung: Februar 2019)

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